Zum Aufbau der Demokratischen Moderne

„Die Geschichte der moralischen und politischen Gesellschaft ist eine Geschichte des Widerstands, der Rebellion und des Kampfes um das Leben“. Abdullah Öcalan

Wir haben vor einigen Monaten begonnen uns im Rahmen einer langfristigen Arbeitsgruppe „Geschichte und Widerstand“ mit der Analyse und Aufbereitung der widerständigen Geschichte, insbesondere in Mitteleuropa und Deutschland auseinanderzusetzen. Denn, um die Gegenwart und uns selbst zu verstehen und die Zukunft zu gestalten, ist es wichtig die Vergangenheit zu kennen. Die Geschichte existiert nicht nur in der Vergangenheit, sie lebt in uns und der Gesellschaft weiter fort und beeinflusst unsere Kämpfe, die wir morgen führen. Daraus ergibt sich: Wenn wir eine Kraft sein wollen, die eine Perspektive der Befreiung aufzeigen kann und diese in die Praxis umsetzt, müssen wir uns als Teil der Geschichte betrachten. Die freie Gesellschaft liegt nicht nur in einer utopischen Zukunft, vielmehr können wir viele widerständige und freiheitliche Ideen und Lebensweisen in der Vergangenheit finden und sie uns (wieder) aneignen und ihnen zu neuer Kraft verhelfen. Unsere Geschichtsauseinandersetzung ist also kein Selbstzweck, sich Wissen anzueignen, sondern grundlegender Teil einer radikalen Organisierung für Veränderung.

Diese Analyse und unsere Annäherung basieren auf den Ideen Abdullah Öcalans und den Methoden der kurdischen Bewegung, wie der Jineolojî. Mit der Philosophie Öcalans und vielen weiteren Werken, hat es die kurdischen Befreiungsbewegung geschafft, ein Paradigma der gesellschaftlichen Befreiung zu formulieren und mit der Revolution in Kurdistan, insbesondere Rojava, dieses in die Praxis umzusetzen. Der Glaube an die Existenz einer demokratischen und moralischen Gesellschaft durch alle historischen Prozesse hinweg, also gesellschaftlicher Kräfte, die nach der Verwirklichung von Werten wie Selbstverwaltung, Gleichheit, Freiheit und einem Leben in Einklang mit der Natur streben und sich auf Basis dieser organisiert, ist der Ausgangspunkt jeder Analyse und des Aufbaus.

Diese Perspektive ist nicht begrenzt auf die kurdische oder mittelöstliche Gesellschaften, sondern vielmehr eine globale Perspektive. So auch für uns, im Zentrum der Kapitalistischen Moderne, im Zentrum der zentrierten Macht des Patriarchats, des Staats und des Kapitals. Die Schaffung eines klaren Bewusstseins und einer Analyse unserer Gesellschaft ist also grundlegend für den Aufbau einer demokratischen und moralischen Gesellschaft. Ohne ein solches, können wir nicht klar formulieren, wie der demokratische Konföderalismus als gesellschaftliches System im Kontext der Gesellschaften in Mitteleuropa aussehen kann und noch viel weniger, wie und mit wem wir diesen Weg gemeinsam beschreiten können.

In den Schriften der kurdischen Bewegung, gerade in den Verteidigungschriften von Abdullah Öcalan, werden einige grundlegenden Analysen und Entwicklungen der Gesellschaften in Mitteleuropa gegeben. Sie betten sich ein in ein ganzheitliches Verständnis der Welt, sind Teil eines Denksystems die Welt und den Menschen darin zu begreifen. Das Gedankengerüst der kurdischen Bewegung begreifen wir auch als Grundlage unserer Arbeiten. An vielen Stellen ist es unsere Aufgabe, diese theoretischen Überlegungen zu ergänzen und zu konkretisieren, wenn wir die Realität der kapitalistischen Moderne und ihrer historischen Entwicklung in Mitteleuropa verstehen wollen. Dafür ist es wichtig, den Widerstand der demokratischen, moralischen Gesellschaft, mit ihren Ideen, Aufständen, Rebellionen, Revolutionen, Hoffnungen und organisatorischen Strukturen und Lebensweisen zu verstehen. Wir können diese nur verstehen, wenn wir in unserer konkreten Arbeiten unsere angelernten Perspektiven, sprich aus dem kapitalistischen Denksystem ausbrechen, unsere eigene Persönlichkeit hinterfragen und uns der Geschichte mit feministischen, nicht-akademischen und dekolonialen Perspektiven nähern. Um die klassische Geschichtsschreibung aufzubrechen ist es wichtig auch auf die Art der Quellen zu achten, deshalb nutzen wir neben historischen Arbeiten u.a. auch Lieder, Gedichte, Tänze, Erzählungen und Kunst als Quelle und Gegenstand von Analysen. Wir wollen die Dominanz der weiß-männlichen Geschichtsschreibung aufbrechen und uns auf Perspektiven von Frauen, Trans* und POC (People of Colour) beziehen. Unser historischer Rahmen erstreckt sich von den matriarchalen und vorpatriarchalen Gesellschaften in Mitteleuropa bis hin zur Gegenwart der kapitalistischen Moderne in den Metropolen.

Und so liegt ein besonderen Fokus auf mitteleuropäischen Stammesgesellschaften, sakrale Kulturen und den Einflüssen des Römischen Reichs und der katholischen Kirche; Bauernaufstände, Hexenverfolgung und die Durchsetzung der Positivistischen Wissenschaften; den deutschen Kolonialismus; die Konstruktion Deutschlands als Nationalstaat; die Weimarer Republik; den Nationalsozialismus und den Widerstand dagegen; linke ökologische, sozialistische und feministische Bewegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Dabei haben wir uns einige Leitfragen gestellt, welche uns beim Arbeiten unterstützen sollen: Wie konnte das Patriarchat, Umweltzerstörung, die Verstädterung, der Staat, der Kapitalismus, die Industrialisierung und ein abstraktes Rechtssystem gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden? Welche Widerstände gab es dagegen? Wo finden wir Elemente der demokratischen und moralischen Gesellschaft im Laufe der Geschichte bis heute? Was war die Rolle von Frauen1 , Trans*, Inter und
Nicht-Binären Personen in der Geschichte?

Wir denken, dass für das Gelingen der Arbeiten notwendig ist, dass auch wir in der Praxis eine möglichst heterogene Gruppe mit verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und Ansätzen sind. Wir freuen uns deshalb sehr, wenn noch mehr Menschen zu unserem Kollektiv hinzukommen und ihre eigenen Schwerpunkte und Ideen einbringen. Dafür ist weder Vorwissen, noch ein akademischer Background nötig – im Gegenteil – wir erarbeiten uns diese Geschichtsschreibung alle neu und auf unterschiedlichsten Ebenen. Wir sind auf der ständigen Suche nach unterschiedlichen Wegen das schon Vorhandene und unser neu erlangtes Wissen zu kollektivieren, breiter zu diskutieren und in Ideen zur Organisierung und Perspektiven münden zu lassen. Mit gemeinsamer Anstrengung, Liebe und Überzeugung, können wir die Kraft für ein freies und schönes Leben aufbauen.

Geschichte & Widerstand
Mai 2020

 

1 Wir verwenden den Begriff „Frau“ als soziale Kategorie mit verschiedenen Dimensionen, aber nicht biologistisch, d.h. auch trans* Frauen sind hierin explizit eingeschlossen.

 

Kontakt: werkstatt-geschichte@riseup.net